Ich hatte eine Einladung: Einen kurzen Text schreiben für den Ron Orp Dachterrassentag in Zürich. Ron Orp ist eine Veranstaltungsplattform in der Schweiz. Von Konstanz aus, wo ich lebe, seit ich vor ein paar Jahren aus Frankfurt weggezogen bin, ist Zürich die nächstgelegene Metropole. Wenn ich es groß brauche, Theater, Konzert, oder auch einfach nur Kopffrei fahre ich hin. Mit dem Flixbus, obwohl ich mir immer wieder schwöre, es nie wieder zu tun, weil ich jedes mal keine 500 Meter Luftlinie von unserer Wohnung entfernt 1,5 Stunden lang am Zoll festsitze; Schengen-Außengrenze; die Zöllner nehmen ihren Job sehr ernst. Alle Mitreisenden ohne EU-Ausweis werden ausgiebig gefilzt. Ich fluch dann erst mal leise vor mich hin, ergebe mich irgendwann schweigend meinem Schicksal und versuche das Ganze gut zu finden, kleiner Reality-Check, der mich kurz aus der provinziellen Gemütlichkeit holt. Die Schönheit der Landschaft, der relative Reichtum der Leute hier am See lullen einen allzu schnell ein. Misstrauen, Kontrolle. Manche Menschen haben das ja täglich auszuhalten. Immerhin überprüfen die Grenzer neuerdings auch mittelalte Frauen mit deutschen Papieren.
Erst starren sie meinen Ausweis an, dann mich.
Grenzer: „Wohin fahren Sie?“
Ich: „Zürich.“
Grenzer: „Allein?“
Ich: „Ja?“
Grenzer: „Was machen Sie dort?“
Ich: „Treffe eine Kollegin“. Kollegin ist das Schweizer Wort für Freundin; ich habe einige davon in Zürich. Manche schreiben, wie ich, so dass sie auch im Deutschen Sinn Kolleginnen sind.
Aus Anti-Diskriminierungsgründen ist es ja erfreulich, dass sich die Grenzschützer auch für mich interessieren, nicht immer nur die üblichen Merkmalträger jung/männlich/außereuropäisch. Andererseits ist es nervig, für den Weg in die Stadt, statt einer Stunde von Zuhause aus 2,5 mal so lang zu brauchen.
Meistens ziehe ich, wenn die Zöllner mir meinen Personalausweis zurückgegeben haben, mein Notizbuch raus und fange an zu schreiben. Stichwörter zum Beispiel zum Thema Wildwuchs. So lautete nämlich die Vorgabe zur Ron Orp-Dachterrassenlesung, bei der ich mitmachen wollte.
Mir fiel dazu eine Szene ein, eine Erinnerung an Frankfurter Zeiten, wo wir einen Garten hatten, den wir mit vielen Leuten teilten, mitten in der Stadt; es war kein konkretes Ereignis, an das ich mich erinnerte, mehr eine Atmosphäre, ein Gefühl, Gerüche. Rosmarin, Thymian. Sommerhitze. Ein Freundschaftsring blitzte zwischen den Rosen auf, nach einem Streit aus dem Fenster geworfen. Es lag wirklich mal ein Ring zwischen unseren echten Rosen in Frankfurt, aber in meinem Kopf begann dieser reale Ring auszuschlagen, Schösslinge zu treiben und Ranken, bis der echte Garten ziemlich zugewuchert und verschwunden war. Plötzlich fand ich statt dem Ring, nach dem in meinem fiktiven Gärtlein fieberhaft gefahndet worden war, ein Hörgerät zwischen den Dornen; die Gartennutzer in meinem Kopf hatten es im ersten Moment für eine Nacktschnecke gehalten. Als ich sie befragte, wie es dorthin gekommen sei, bekam ich zur Antwort, dass es wie der Ringe auch nach einem Streit aus dem Fenster geworfen worden sei… Der Mann des Hausdrachens aus dem ersten Stock wollte das Ding loswerden, hatte die ewigen Tiraden seiner Frau satt…ah, jetzt hatte ich schon zwei Konflikte, von wegen Garten Eden, alles friedlich! Diese erste Gartengeschichte, aus der dann später ein Kapitel von „Garten, Baby!“ werden sollte, schrieb sich wie von selbst. Nicht komplett unterwegs beim Flixen, aber irgendwie doch beiläufig, organisch. Weitere kleine Episoden ploppten auf, auf, steckten ihre Köpfchen durch die Erde, so dass ich sie nur noch pflücken musste.
Ich ließ alles kommen, Wildwuchs indeed, und beobachtete fasziniert, was da so auftauchte an Menschen, Pflanzen, Tieren; die meisten Hybride aus den verschiedensten Charakteren/Wesen, die irgendwann in der Vergangenheit mal meine Wege gekreuzt hatten. Lore Dittrich, beispielsweise, Hausdrache und Diva aus dem Parterre, ist die Essenz aus 45 Jahren Wohnerfahrung in Mietshäusern.
Irgendwann begann ich meine kleinen Gartenepisoden zu ordnen, zu systematisieren. Eines Tages fragte ich mich: Ist das schon ein Gartenjahr? Spätestens da machte es Klick, da hat es mich gepackt: Würde ich es hinkriegen, ein ganzes Jahr in solch einem Mikrokosmos zu erzählen, einem Hortus Conclusus, der nur selten verlassen wird? Würde das funktionieren? Im Nachhinein scheint mir das ja geradezu zwangsläufig, Gartengeschichten als Jahreszyklus anzulegen; Garten = Jahreslauf, fast schon Synonyme, aber in diesem ersten Moment war es ein echtes Aha. Viel mehr auch als nur ein Ordungsprinzip, als es dann einmal klar war. Dann war es nämlich auch eine Methode, neuen Stoff, neue Ideen zu generieren: Hmm, im August ist viel mehr los als im Juli, was könnte im Juli noch alles passieren? Und der Herbst ist noch etwas dünn. Was machen Menschen im November mit ihrem Garten? Wie treffen sie im Winter aufeinander?
So wuchs mein Phantasiegarten, aber es wurde kein Idyll daraus, sondern ein Urban Garten mit einer schillernden Population skurriler Menschen und Tiere, ich schätze, weil ich hier in der Süddeutschen Provinz die größere Vielfalt, die Reibungshitze der Stadt genauso vermisse, wie ich in Frankfurt die Natur vermisst habe.
Herrlich Paradox, wenn man darüber nachdenkt: Mit dem Gärtnern anzufangen aus Sehnsucht nach der Natur, mit dem Schreiben über den Garten aus Sehnsucht nach der Stadt…
Weiß zufällig jemand, ob es in Frankfurt auch einen Dachterrassentag gibt? Netto dauert es mit dem Flixbus dorthin am Ende gar nicht so viel länger als nach Zürich. Ich werde es ausprobieren, besser zwei Notizbücher einstecken als eins.